Ein Scheeter Lausbub aus der Weststraße erzählt



Der Kohlscheider Karl Schaffrath, Jahrgang 1948, berichtete uns zu den Jahren ab 1952 aus eigenen Erinnerungen. Die davor liegenden Begebenheiten schilderte er nach Erzählungen seines Vaters, an die er sich stark erinnert. Seine Eltern August und Lene Schaffrath betrieben in der Weststraße eine Bäckerei und Konditorei mit Café, das legendäre Café Olers (im Volksmund Ollers genannt). Wir bringen hier die interessantesten Geschichten.

Die 30er Jahre

Im Jahr 1931 kam sein Vater August Schaffrath in Begleitung seiner Mutter von Alsdorf nach Kohlscheid,. Er wollte bei Olers das Bäckerhandwerk lernen. Beim Aussteigen aus der Straßenbahn haben ihn die überwiegend im Jugendstil erbauten, schönen Häuser der Weststraße mit ihren durch Staketenzäune geschützten Vorgärten stark beeindruckt.Als er dann das gerade im Jahre 1930 erbaute Café Olers betrat, war er von Kohlscheid restlos begeistert. Das Café Olers galt zu dieser Zeit als eines der am besten ausgestalteten Cafés im Landkreis.
Er arbeitete gegen Kost und Logis und erhielt von seinem Lehrherrn einen Wochenlohn von 50 Pfennigen. Zu seinen Aufgaben zählte auch das Ausliefern von Ware bei der Kohlscheider Kundschaft. Auf diese Weise lernte er viele Kohlscheider kennen und wurde wiederum bei ihnen bekannt. Zu dieser Kundschaft gehörten auch die damaligen Bergwerksdirektoren, die in den EBV-Villen an der Roermonder Straße und Weststraße wohnten. Von den Kunden erhielt er Trinkgeld und damit konnte seine Einkünfte beträchtlich verbessern. Das versetzte ihn in die Lage sich etwas leisten zu können. Das führte dann zu der Begegnung mit Josef Spiegel.

(c) Sammlung Karl Schaffrath


Josef Spiegel

Herr Spiegel betrieb in den Räumen der Weststraße 2 ein Schuhgeschäft. In dem Schaufenster erblickte der Bäckerlehrling ein paar schöne Schuhe. Täglich schaute er nach, ob die Schuhe noch zu haben waren. Der Inhaber Herr Spiegel bemerkte das und fragte ihn, ob er die Schuhe kaufen wolle. Die Schuhe kosteten 7 RM. Sie waren für den Lehrling unerschwinglich. Herr Spiegel bot ihm einen Ratenkauf mit wöchentlicher Zahlungen von 0,50 RM an, So kam der Vater zu den begehrten Schuhen und seinem ersten Kreditgeschäft. Herr Spiegel war ein sehr korrekter und gut gekleideter jüdischer Kaufmann. Er ermöglichte vielen Kohlscheidern solche Ratenkäufe.

(c) Sammlung Karl Schaffrath

(c) Sammlung Heimatverein Kohlscheid

(c) Sammlung Heimatverein Kohlscheid

Nazis in Kohlscheid

Das Geschäft Spiegel wurde am 9. November 1938 Opfer der Pogromnacht. Die Scheiben wurden eingeschlagen, die Ware geplündert. An dieser Aktion haben sich sicher auch einige Kohlscheider beteiligt, denen Herr Spiegel ebenfalls einen Schuhkauf auf Raten ermöglicht hatte. Herr Spiegel flüchtete aus Deutschland. 1942 wurde er bei einer Razzia in Mechelen  / Belgien verhaftet und nach Auschwitz deportiert. Er hat den Holocaust nicht überlebt. Daran erinnert heute ein Stolperstein.

Stolperstein, Weststraße. 2

In der Nordstraße Nr.1 betrieben die SA Leute ein Büro. Im unteren, hinteren Teil des Gebäudes Weststraße Nr. 6 mit Anbindung an Nordstraße Nr. 1 hatten die Gesellen und Lehrlinge der Bäckerei ihre Unterkünfte. Die SA Leute machten in ihrem Büro Schießübungen. Dabei durchschlugen Kugeln die Wand zu den Unterkünften. Es passierte nichts Schwerwiegendes. Das Büro wurde allerdings geschlossen.

Jeden Sonntag marschierte die SA vor dem Restaurant "Vier Jahreszeiten", Ecke Weststraße / Markt, auf. Darunter befanden sich auch die Arbeitsdienstleute, deren Quartier in den Barracken an der Bergstraße war. Der Arbeitsdienst erstellte den Westwall in der hiesigen Region.

Dieses Bild erhielt Karl von seinem Vater. Das Foto erschien in den Heimatblättern in der Ausgabe zu Richterich, Seite 83.

An einen Vorfall erinnert Karl ganz besonders. Im Saal des Restaurants Germania, Markt 45, wurde ein Kommunist von einem SA Mann bei einem Streit erschossen. Der SA Mann blieb unbehelligt. Sein Vater nannte ihm öfter drei Namen von SA Männern, die sich besonders hervortaten. Diese drei Namen hat Karl heute noch im Gedächtnis.

(c) Sammlung Heimatverein Kohlscheid

Besonderheiten rundum Weststraße Nr. 6

Was viele nicht wissen; hinter den Anwesen von Weststraße 28 bis Weststraße 6 gab es ein Gässchen. Durch dieses Gässchen gingen die Anwohner früher das Wasser im Brunnen hinter Nr. 6 holen. 1930 wurde der Brunnen beim Bau des Cafés überbaut.  
In der Nordstraße Nr. 3 befand sich ein kleines Cafe. Der hintere Teil war mit Gästelauben bestückt und grenzte an den Brunnen. Später war dort das Lebensmittelgeschäft Vallot. Im Jahre 1965 wurde der Brunnen vom EBV wegen Grubenschäden verschlossen.
Nach dem Bau des Cafés, 1930 war in Weststraße 8 ein Zugang zur Backstube; das „Gängelchen“ genannt. In dem Gängelchen befand sich eine Wassertoilette. Für die Bewohner der oberen Weststraße war diese Toilette auch zugängig.
Über das Gängelchen kamen bis in die 60er Jahre noch viele Hausfrauen mit vorgefertigten Backwaren in die Backstube. Dort wurde dann "abgebacken" Als Entlohnung hierfür erhielt Herr Olers, nachher Herr Schaffrath entweder Naturalien oder Geld. Diese Art und Weise des Abbackens war lange Zeit üblich.

Aufgewachsen in einer Bäckerei

Wie viele Famlien in der Nachkriegszeit hielt auch die Familie Schaffrath alles Übliche zur Selbstversorgung im Garten: Tauben, Schwein, Ziege und Kaninchen. Der Großvater Olers hatte auch noch einen Gemüsegarten. Das Schwein war für Kinder, die zum Spielen kamen, eine Attraktion.  

(c) Sammlung Karl Schaffrath

Nachmittags, wenn kein Betrieb war, durften wir Kinder in der Backstube spielen. Das war besonders schön im Winter, weil es schön warm war.
Ab 14 Uhr war kein Betrieb mehr in der Backstube. Der Vater hielt dann sein Mittagsschläfchen und danach wurden die Arbeiten erledigt, die nicht in der Backstube zu machen waren. In den frühen Abendstunden ging der Vater dann schlafen. Er stand um 4:30Uhr auf und der Betrieb fing um 5:00 Uhr an.
Durfte man naschen? Ja klar, es gab immer Kuchen. Es gab Eimer mit Resten und Abschnitten. Besuchskinder wussten, wo diese Eimer in der Backstube standen. Sie gingen mal schnöfern. Das heißt sie gingen mal schauen, was es denn so gab.
Der große Obstbedarf für das Geschäft wurde bei einem Heinsberger Händler gedeckt. Alles wurde in Eigenarbeit verarbeitet, dabei halfen die Kinder mit. Das Einkochen erfolgte in einem alten kupfernen Waschkessel. Zum Verschließen der vielen Einmachgläser hatte der Vater eine Verschlussmaschine angeschafft.
Bei allen anderen Arbeiten in der Backstube durften die Kinder nicht mithelfen. Heute würde man sagen aus Hygienegründen, Sicherheitsgründen und Qualitätsgründen. 
Übrigens, in dem Waschkessel wurde auch das Schwein abgebrüht, um die Borsten zu ziehen.  
Im Alter von 10 bis 12 Jahren hat Karl mit einem uralten Fahrrad Brotbestellungen ausgeliefert, ohne aber zu kassieren. Kassiert wurde später beim nächsten Besuch im Geschäft. Oder der Betrag wurde, wie in vielen Geschäften, in ein Anschreibebuch, das sogenannte „Puffbuch“ eingetragen. Die Ware wurde „auf Puff“, also auf Kredit gekauft.
Als Vorläufer des späteren Wochenmarktes vertrieben fliegende Händler Artikel des täglichen Bedarfs oder sammelten Alteisen und Lumpen. An den Milchhändler kann Karl sich auch erinnern. Milch wurde in größeren Mengen vom "Schwazze Frenz", dem Michhändler Franz Schwartz geliefert. Er hatte in der Mühlenstraße hinter dem Haus Weststraße 6 seine Räumlichkeiten. Auf der Wiese daneben stand sein Pferd "Connie", das den Milchwagen zog. 
Obwohl es sich um eine Kohlscheider Familie handelte, wurde bei Schaffrath nicht Platt gesprochen. Das lernten Karl und sein älterer Bruder „auf der Straße“; also im Umgang mit Freunden. Das galt übrigens auch für viele andere Familien.
Für die Kinder gehörte das Spielen auf dem Dach der Backstube und Konditorei zum Alltag.
"Vom Dach hatten wir immer einen guten Einblick in die Weststraße. Wir beobachteten alles".
Links Hauhaltwaren Eck, dann Eisenwaren Eck, ganz rechts ein Stück von Schweibwaren Brülls.
Im Vordergrund ist der Garten von Dachdecker Garschke.
Während der Umbauzeit 1953, diente der Garten als Ablageort von Altmaterialen. Da war der Garten ein Eldorado für Kinder. Viele Freunde waren damals ständig zu Besuch.

Neubau der Geschäftsräume Weststraße 6

Sehr abwechslungsreich war die Zeit des Neubaus der Geschäftsräume Weststraße 6. 1953; Karl war 6 Jahre alt.
Heute weiß er aus dieser Zeit noch folgende Geschichten:
Das alte Geschäftshaus Weststraße 6 war durch das Kreisbauamt Aachen als einsturzgefährdet eingestuft worden, sodass ein Neubau unumgänglich war. Kurz entschlossen wurde der Sohn des Kreisbaumeisters Peters mit der Neubauarchitektur beauftragt. Der Bruder des Vaters Josef Schaffrath , hatte eine Bauunternehmung in Alsdorf. Er wurde mit dem Neubau beauftragt.
Beim Abriss des Altbaus galt die ganze Aufmerksamkeit dem alten Nebengebäude Weststraße 4, dem „Specke Huisje“. Der damalige Eigentümer kam jeden Tag zur Baustelle, um "nach dem Rechten zu sehen".  Sein Interesse galt der möglichen Einsturzgefahr dieser an der Grenze der Baufälligkeit befindlichen Immobilie und der sich vielleicht daraus ergebenden Vorteile.


Weststraße 6 „Specke Huisje“

Bäckerei Fachverkäuferinen Ilse und Käthe, im Hintergrund Karl Schaffrath 

(c) Sammlung Karl Schaffrath

(c) Sammlung Karl Schaffrath

In der Schubkarre Karl Heinz Wirtz- Schuhhaus und Schusterei- und Karl Schaffrath
Im Hintergrund rechts Tabakwaren Hammers, hinten links Eisenwaren Eck
So wurde betoniert. Draußen wurden in einer kleinen Mischmaschine Sand, Zement und Wasser zu Beton gemischt. Per Schubkarre dann an Ort und Stelle auf die zukünftige Verkaufsladenfläche gefahren und gekippt. "Das interessierte uns nicht."  
 Der Blick in die Westsraße zeigt das Haus Nr. 1, Radio Schulpin. Links ist die Abstützung zu "Specke Huisje" zu sehen.
Zur Finanzierung wurden Landesmittel beantragt und letztendlich auch genehmigt.
Als die Landtagsabgeordnete Frau K. dies in Erfahrung gebracht hatte, setzte sie alle Hebel in Bewegung, diese
Finanzierung zu kippen. Sie wußte wohl, dass das Café im Jahre 1930 durch den damaligen
Bürgermeister Gibbels, Mitglied der NSDAP, geplant und realisiert worden war. Dies war für sie ein
Grund, mächtigen Ärger zu machen und diese öffentlichen Mittel zu stoppen.
Was Frau K. nicht wusste, war, dass August Schaffrath nie Mitglied der NSDAP oder einer entsprechenden Organisationen war. Im Gegenteil, August Schaffrath lehnte dieses Regime strickt ab. Der Großvater Wilhelm Schaffrath war in Alsdorf ein Zentrum- und Kirchenmann.
Im Kreishaus Aachen arbeitete 1953 auch Franz Frank.  Anfang der 30iger Jahre arbeitete der Vater Schaffrath  und Franz Frank zusammen in der Bäckerei Olers. Im Verlaufe der 30er Jahre wurde Franz Frank von den Nazis verfolgt, er überlebte aber den Pogrom. 
Nun, 1953, bearbeitete Franz Frank entsprechende Finanzierungen mit Landesmitteln. Er klärte die Hintergründe der Einlassung von Frau K. auf. Die Finanzierung stand.
Ganz links Tabakwaren Hammers, daneben die Türe zum "Gängelchen" zur Backstube, dann Eingang zum Café‚
die neuen Schaufenster und die Türe zum Verkaufsladen der Bäckerei - Konditorei, und rechts das Fenster des Friseursalon Neumann
Während des Umbaus waren natürlich einige Umstellungen notwendig. Der Verkauf der Backwaren wurde im unteren Bereich des Cafés weitergeführt. Die Briketts zur Befeuerung des Ofens wurden durch den Backstubenzugang mit einer Schubkarre in den Brikettbunker neben dem Backofen gefahren. Hierbei half der Nachbar, Herr Königs-Leisten. Bei der Leerfahrt durften die Kinder in der Schubkarre mitfahren.

Den Gesichtskreis erweitern

(c) Sammlung Karl Schaffrath

In den Jahren 1955 und 1957 begleiteten Karl und seine Freunde die Fronleichnamsprozession als Schellenjungen. In kirchliche Gewändern gekleidet , flankiert durch die Messdiener, kündigten sie mit ihren Schellen die Prozession an.
Folgend einige Bilder hierüber.
Da wird sich sicherlich der ein oder andere wiedererkennen.
Bald war der Karl kein kleiner Lausbub mehr.
Im Verlauf der weiteren Jahre gab es dann die DJK. Sport wurde zur großen Leidenschaft.
Und  dann war da noch die Mitgliedschaft in der Jungschar, der KJG, der katholischen Jugend Gemeinschaft (z.Z von Kaplan Müller). Im alten Jugendheim in der Südstraße fanden die schönen Spielabende statt.  Und im Wald die sogenannten Schnitzeljagden. In die Eifel ging es für Wanderungen und abenteuerliche Zeltlager.

Schlußbetrachtung

Spielen war In den 50er Jahren noch etwas ganz anderes als heute. "Spielsachen" gab es nicht. Die Kinder vergnügten sich mit dem, was sie draußen fanden.
Karl hat die Kohlscheider Begebenheiten, die sein Vater ihm geschildert hat, nicht vergessen. Er und auch der Heimatverein werden diese Zeit der braunen Gesinnung nacharbeiten. Wer zu den 30er und 40er Jahren etwas zu berichten hat melde sich bitte bei uns.
Karl erinnert sich heute gerne an eine schöne und intensive Kinder- und Jugendzeit in enger Naturverbundenheit.

Quellen:

- Karl Schaffrath
- Heimatverein Kohlscheid, 1932, e.V


Dank

  • an Karl Schaffrath für seine Texte und Bilder. Viele Informationen kamen während lustiger Gespräche noch auf. In seiner Bildersammlung gibt es auch viele Bilder zur Bäckerei und zum Cafeé Olers. Für einen Bericht stellt er auch diese Bilder zur Verfügung.
  • an Marianne Schülke für die Recherche und Aufarbeitung des Themas. Sie hat auch den gesamten Text auf Fehler kontrolliert
  • an den Heimatverein Kohlscheid für die Bilder aus dem Archiv
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  • Im unveröffentlichten Band 5 der Spurenbücher von Josef Aretz findet sich ein Hinweis, der eine offene Beschäftigung mit den Ereignissen der Progromnacht in Kohlscheid sicherlich erschwert:
    05.12.1938 In Kohlscheid werden alle SA- und SS-Leute für ihre Tätigkeit in der „Reichskristallnacht“ bezahlt. Sie erhalten für die Aktionstage Lohnausfall, Fahrgeld, Zehrgeld und noch eine besondere Prämie. Dies ist für den gesamten Raum des Deutschen Reiches einmalig! Sehr viele Plünderer waren schon vor der Aktion betrunken.

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